Der kleine Prinz beim PädagogenGuten Tag, sagte der kleine Prinz.
Sprich einen ganzen Satz, befahl der Pädagoge. Es heißt: Ich wünsche dir einen guten Tag. Sag es langsam nach. Ich wünsche dir einen guten Tag, sagte der kleine Prinz artig.So ist es recht, sagte der Pädagoge und zog ein Büchlein aus der Tasche. Was hast du da, fragte der kleine Prinz. Ich trage dir eine gute Note für gutes Betragen ein, antwortete der Pädagoge. Willst du in meine Schule gehen, fragte er. Was muss ich denn da tun, fragte der kleine Prinz. Du musst zunächst einen Eignungstest machen. Eignungstest, was ist das, fragte der kleine Prinz.
Das ist nicht so wichtig, sagte der Pädagoge, das Wichtigste ist, es lässt sich leichter kontrollieren. Gut, sagte der kleine Prinz, dann fange an, mich zu testen. Der Pädagoge reichte dem kleinen Prinzen ein Arbeitsblatt. Lies den Text leise durch und kreuze die richtigen Antworten an, befahl er. Aber, sagte der kleine Prinz, ich kann doch gar nicht lesen. Der Pädagoge war empört. Du willst in die Schule und kannst noch nicht lesen? Was hast du denn für eine Frühförderung gehabt? Frühförderung, was ist das, wollte der kleine Prinz wissen. Frühförderung, das heißt, dass wir Pädagogen festgestellt haben, dass es notwendig ist, Kindern vor der Schule das Lesen, Rechnen und logisches Denken beizubringen, damit sie das nicht erst in der Schule lernen müssen. Und was lernt man dann in der Schule, fragte der kleine Prinz. Die Schule baut, sagte der Pädagoge, auf der Vorschule auf und kann sich dann wissenschaftlichen Dingen zuwenden. Sie bereitet so vor auf die weiterführenden Schulen. So spart man eine Menge Zeit. Was hast du denn in deiner Vorschule bisher gemacht, fragte er den kleinen Prinzen. Ich habe gespielt. Spielen ist Zeitverschwendung, sagte der Pädagoge. Waren es wenigstens Lernspiele? Das weiß ich nicht, sagte der kleine Prinz, ich habe zum Beispiel gemalt. Willst du es sehen, fragte er und zeigte dem Pädagogen sein Bild mit der Schlange, die einen Elefanten gefressen hat. Na gut, meinte der Pädagoge, das ist wohl die Umgrenzung von Nullelementen in einer Menge. Elemente von was? Hast du noch nie etwas von Mengenlehre gehört? So wirst du den Numerus clausus nie schaffen. Der kleine Prinz schaute fragend. Schon gut, meinte der Pädagoge, ich will es dir erklären. Das Wichtigste im Leben ist die rechtzeitige Vorbereitung. Die Vorschule bereitet auf die Grundschule, die Grundschule auf die weiterführende Schule, die weiterführende Schule auf die Universität, die Universität auf den Beruf vor. Hast du verstanden? Und auf was bereitet der Beruf vor, fragte der kleine Prinz. Auf die Pension natürlich. Und die Pension? Du bist aber ein entsetzlicher Quälgeist, sagte der Pädagoge. Wenn jemand in seinem Leben etwas geleistet hat, wird er auch seinen Ruhestand zu nützen wissen, damit die Leute einmal an seinem Grab sagen können, er habe ein erfülltes Leben gehabt. Komisch, sagte der kleine Prinz, ich habe den Eindruck, jemand, der immer nur vorbereitet wird, hat nie Zeit gehabt, zu leben. Das verstehst du noch nicht, sagte der Pädagoge schroff. Sag mir lieber, was du bisher noch geleistet hast. Bringst du wenigstens ein biologisches Wissen mit? Welche Pflanzen und Tiere kennst du? Ich habe auf meinem Planeten eine Rose. Es gibt viele Rosenarten, entgegnete der Pädagoge. Ich habe hier ein Arbeitsblatt über Rosen.Da du nicht lesen kannst, will ich es dir vorlesen:
1. Arbeitsaufgabe. Meine Rose ist a) eine Pfingstrose, b) eine Polyanderrose, c) eine Heckenrose, d) eine Hochstammrose. Kreuze die richtige Antwort an!
2. Arbeitsaufgabe. Welche chemischen Prozesse vollziehen sich bei der Nahrungsaufnahme der Rose? Du hast wieder mehrere Antworten zur Auswahl.
3. Bilde mindestens 5 zusammengesetzte Hauptwörter mit Rose wie Rosenkohl, Rosenduft!Meine Rose duftet sehr gut, unterbrach ihn der kleine Prinz. Guter Duft ist im kognitiven Erfassungsbereich nicht vorgesehen, der lässt sich schlecht kontrollieren und gehört daher nicht in den Lernzielkatalog, winkte der Pädagoge ab. Ich mag meine kleine Rose, sagte der kleine Prinz, und denke immer darüber nach, wie ich sie vor dem Schaf auf meinem Planeten schützen kann. Über Pflanzenschutzmittel sprechen wir dann im chemischen Sachunterricht. Du wirst sehen, das ist sehr interessant. Und ich freue mich jeden Tag an meiner Rose! Freude ist ein affektives Lernziel.
Das ist nicht so wichtig, aber von mir aus darfst du am Schluss der Unterrichtsstunde auch Freude über Rosen empfinden. Ich werde schon einen Weg finden, wie ich kontrollieren kann, ob deine Freude lernzielspezifisch war. Ich will mich aber nicht nur freuen, wenn es auf deinem Plan steht, sagte der kleine Prinz.Zur ständigen Freude haben wir leider keine Zeit, sonst erreichen wir unsere Lernziele nicht, sagte der Pädagoge unwirsch. Und wenn wir die nicht erreichen, bist du lebensuntüchtig. Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.
Du hast recht, sagte der kleine Prinz, darum glaube ich, ist deine Schule auch nichts für mich. Und er machte sich wieder auf die Reise.
Halt, halt, rief ihm der Pädagoge nach. Du hast noch gar nicht gehört, wie meine didaktische Analyse weitergeht und welche Lernziele ich noch vorgesehen habe: Rechnen mit Rosenkranzperlen im Relgionsunterricht, Mikroskopieübungen bei Rosenblättern. Bestimmung der Kadenzen im Lied »Sah ein Knab ein Röslein stehn«. Über Bräuche sprechen und Freude über den Rosenmontag empfinden. Das literarische Werk Herbert Rosendorfers würdigen lernen. Die Gewinnspanne des Rosenheimer Verlagshauses bei Zöpfl-Büchern ausrechnen...
Aber das hörte der kleine Prinz nicht mehr, denn er hatte sich ganz schnell davongemacht, um nicht noch eine Neurose zu bekommen.
aus: Helmut Zöpfl: Schalt mal ab.